Die Schweiz ist das Land der direkten Demokratie. Durch Volksinitiativen können die Stimmberechtigten Änderungen der Bundesverfassung verlangen, das Referendum gibt ihnen das letzte Wort über neue Gesetze.
Besonders Letzteres birgt aber die Gefahr der Verlangsamung politischer Prozesse: Wenn Behörden und Parlament Gesetze verabschieden, ohne die genaue Stimmungslage der Bevölkerung zu kennen, drohen diese ständig, an der letzten Etappe zu scheitern.
Um dem entgegenzuwirken, kam bereits ab der Einführung des Referendums 1874 das weniger bekannte dritte Geschwister der direktdemokratischen Rechte der Schweiz zum Einsatz: die Vernehmlassung.
Vernehmlassungen dienen dazu, die Widerstandskraft von Erlassentwürfen gegenüber Referenden zu erhöhen. Durch die Befragung und den Einbezug von Organisationen und Regionen in den Gesetzgebungsprozess stärken sie deren Konsensfähigkeit und unterziehen sie einem faktischen und politischen Realitätscheck.
Konkret veröffentlichen Behörden beim Bund und in allen 26 Kantonen der Schweiz Gesetzesentwürfe, bevor sie diese in die jeweiligen Parlamente weitergeben. Zur Vernehmlassung eingeladene Organisationen und die gesamte interessierte Öffentlichkeit können innerhalb einer befristeten Zeit Stellungnahmen dazu abgeben. Diese werden zur Kenntnis genommen, nach politischer Relevanz gewichtet und fliessen in den Entwurf ein.
Die Teilnahme an Vernehmlassungen ist freiwillig. Teilnehmen können alle, auch Akteure, die von den zuständigen Verwaltungsstellen nicht eingeladen wurden. Die Teilnehmenden lassen sich in drei Gruppen einteilen:
Eingereichte Stellungnahmen landen wieder bei der zuständigen Verwaltungsstelle. Beim Bund werden sie nach Ablauf der Vernehmlassungsfrist ausgewertet, online veröffentlicht und in einem Ergebnisbericht zusammengefasst. Die Kantone handhaben die Praxis unterschiedlich.
Eine vorgeschriebene Wirkung haben Vernehmlassungen nicht. Es kommt vor, dass Gesetzesvorhaben nach der Vernehmlassung vollständig überarbeitet und sogar Texte aus Stellungnahmen übernommen werden. Andere Rückmeldungen fliessen gar nicht in den Gesetzesentwurf ein.
Als entscheidendes Kriterium dafür gilt die Referendumsgefahr: Je stärker der Eindruck entsteht, dass ein erfolgreiches Referendum zustande gebracht werden könnte, desto eher nehmen die zuständigen Behörden Änderungen im Gesetzesentwurf vor.
Der weitere Verlauf der Geschäfte unterscheidet sich in der Praxis stark. Im Normalfall berät der Bundesrat über die abgeschlossene Vernehmlassung auf Bundesebene und leitet den Gesetzesentwurf zusammen mit einer Botschaft ans Parlament weiter. Dieses kann wiederum Änderungen vornehmen.
Artikel 147 der Bundesverfassung schreibt vor, dass „die Kantone, die politischen Parteien und die interessierten Kreise bei der Vorbereitung wichtiger Erlasse und anderer Vorhaben von grosser Tragweite sowie bei wichtigen völkerrechtlichen Verträgen zur Stellungnahme eingeladen" werden.
Abgesehen von dieser etwas unscharfen Grundlage gab es bis 2005 keine rechtliche Verankerung. Erst das Vernehmlassungsgesetz vom 18. März 2005 und die Vernehmlassungsverordnung vom 17. August 2005 regeln das Vernehmlassungsverfahren detaillierter.
Passend zum föderalistischen Modell der Schweiz gibt es daneben 26 unterschiedliche kantonale Regelungen. Alle grösseren Kantone kennen rechtliche Grundlagen entweder in der Kantonsverfassung oder auf der Ebene von Gesetzen.
Nur in kleineren Kantonen finden sich keine formellen rechtlichen Vorgaben. Der Verzicht auf Vorschriften bietet ihnen eine grössere Flexibilität bei der Durchführung von Vernehmlassungen.